Während der Recherche zu dieser Hausarbeit habe ich viele Webseiten aus den 90er Jahren gesichtet – doch natürlich ist es nur eine kleine Auswahl an „Highlights“,
die die frühen Jahre des Internets überlebt haben und von Journalisten und Autoren für zeigenswert erachtet wurden. Viele Seiten sind aus dem Web verschwunden, ohne dass sie für die Nachwelt dokumentiert wurden.
Gründe dafür gibt es viele: Menschen hören beispielsweise auf, für einen Domainnamen zu zahlen, weil es zu teuer wird, ihnen die Domain abgekauft wird oder die Seite schlicht keinen Nutzen mehr bringt. GeoCities beispielsweise, der erste großen Anbieter von kostenlosen Domains, den in den 90ern viele Menschen nutzten, um sich eine persönliche Homepage zu gestalten, wurde 2009, zehn Jahre nachdem er von Yahoo gekauft wurde, eingestellt. In anderen Fällen wird die Software, mit der die Webseite zugänglich ist, nicht mehr unterstützt – dies ist zum Beispiel bei den Flash-Webseiten der Fall. Die meisten Browser warnen inzwischen vor der Nutzung von Flash und Ende 2020 wird der Vertrieb des Programms ganz eingestellt.
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Projekte wie das Internet Archive und GeoCities Archive versuchen, diese alten Webseiten und damit ein Stück Kulturgut zu retten. Dank ihrer Arbeit konnte ich mir, keine 30 Jahre später, einen Eindruck von der Anfangszeit des Webs machen.
Im Folgenden möchte ich meinen persönlichen Eindruck vom Webdesign der 90er Jahre und dem Heutigen vergleichen und mich auch an Erklärungen zu den Entwicklungen versuchen. Wo möglich, stütze ich mich auf Quellen, aber in erster Linie bleibt es eine persönliche Schlussfolgerung. Die Ausmaße des World Wide Web sind schließlich so groß, dass es schwierig ist, Entwicklungen hinreichend zu belegen.
Die erste Webseite der Welt bestand nur aus einspaltig über die ganze Seite laufendem Text mit unterstrichenen Links zu weiterführenden Seiten. Diese „Gestaltung“ ist bis heute anzutreffen, wenn eine Webseite fehlerhaft lädt und der Browser auf die HTML-Fallback-Version zurückgreift.
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Heutige Webseiten unterscheiden sich stark von dieser ersten Variante.
Inzwischen kommt kaum eine Webseite ganz ohne Bilder aus, so wie es in den 90er Jahren noch gängig war, und die Bilder laufen oft großzügig über die gesamte Bildschirmbreite. Diese Entwicklung lässt sich damit begründen, dass heutzutage viel größere Datenmengen zu einem viel geringeren Preis übertragen werden können. Auch Server und Endgeräte sind schneller und leistungsstärker geworden. Große Bilder und auch Videos stellen technisch beim Laden kein Problem mehr dar.
Auch die Darstellungsweise von Text und das Layout ist vielseitiger geworden, da sich die Codingsprachen mit den wachsenden Ansprüchen mitentwickelt haben und heutzutage viel mehr Gestaltungsraum bieten. Webseiten werden nicht mehr nur in HTML geschrieben und mit Flash aufgehübscht. CSS bietet heutzutage vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten und JavaScript macht die Webseiten interaktiv erlebbar.
Mit der wachsenden Popularität von GeoCities wurden persönliche Homepages zum Phänomen des jungen Internets. Menschen bastelten sich hier, teilweise mit viel Liebe und Kreativität, ihren eigenen Ort im Netz in HTML selber zusammen. Bunte Farbverläufe, blinkende GIFs und persönliche Fotos füllten diese Seiten. Die User waren in der Regel keine professionellen Gestalter, sondern Amateure, die sich für das neue Internet-Universum interessierten und es besiedeln wollten – entsprechend unprofessionell, wild und chaotisch sahen die Webseiten aus. „Welcome“- und „Unter Construction“-Schilder sowie Gästebücher waren typische Homepage-Bestandteile. Durch ihre Imperfektion und Unvollständigkeit besaßen die Seiten einen sehr intimen Charakter – es war deutlich zu erkennen, dass dahinter eine „reale“ Person saß. „People were not just posting something, they were, with their webpages, creating the medium, creating the World Wide Web“, beschreibt Olia Lialina, Netzkünstlerin und Designerin, die Situation. „They built a sense of ownership into the early web.“ [1]
Sie und ihr ebenfalls als Medienkünstler und Designer arbeitender Mann Dragan Espenschied haben den Tumblr-Blog oneterabyteofkilobyteage ins Leben gerufen, auf dem in regelmäßigen Abständen Screenshots aus dem GeoCities-Archiv gepostet werden. Damit wollen sie jungen Internetnutzern einen Einblick in eine Welt vor der Übernahme durch große Social-Media-Plattformen geben. Die beiden vermissen die alten Tage des Internets und bemängeln die fehlende Diversität heutiger Webseiten. Diese seien minimalistisch, neutral, hell und freundlich vom Aussehen, einfach und intuitiv in der Benutzung, aber frei von Persönlichkeit und Originalität.
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Gründe für diese Entwicklung im Webdesign gibt es viele:
Zum einen ist das World Wide Web nicht mehr nur die Welt von Nerds und Techno-Utopisten. Über die Hälfte der Weltbevölkerung nutzt das Internet regelmäßig – das Web wurde aus einer kulturellen Nische heraus in den Mainstream befördert, die Gestaltung hat sich entsprechend gemäßigt und an die Durchschnitts-User*in angepasst.
Auch die Gründe für die Nutzung des World Wide Web haben sich verändert. Zu Beginn waren es Abenteuerlust und Neugier, das Web wurde als neue und unerforschte Galaxie wahrgenommen, die es zu entdecken und besiedeln galt. Inzwischen sind wir fast permanent online und brauchen das Internet, um unseren Alltag zu meistern. Das Web ist so komplex geworden, dass wir in der überfordernden Informationsflut nicht mehr nach Überraschungen suchen, sondern nach Vereinfachung und Ordnung.
Suchmaschinen helfen uns dabei. Sie strukturieren das Web und bringen uns schneller und verlässlicher ans Ziel. Wenn Inhalt oder Aufbau einer Webseite dann nicht gleich ersichtlich ist, wird eben die nächste geöffnet – wir können es uns schlicht nicht leisten, jede Webseite intensiv und mit Neugier zu erforschen.
Daher sind die meisten Seiten heutzutage sehr übersichtlich und intuitiv aufgebaut. Ganze Studiengänge beschäftigten sich mit Themen wie User Experience und Interface-Gestaltung, um die User*innen noch sicherer und effizienter auf befestigten Pfaden durch das World Wide Web zu leiten – verirren unerwünscht. Da die User*innen schon bestimmte Funktionalitäten und Strukturen verinnerlicht haben (z.B. die Bedeutung von bestimmten Icons oder den Standort der Navigationsleiste im Browserfenster) macht es aus Usability-Gründen Sinn, auch zukünftige Webseiten nach eben diesen Sehgewohnheiten aufzubauen.
Plattformen wie Youtube oder Instagram limitieren die User zwar in ihren Gestaltungsmöglichkeiten, sie bieten aber auch Struktur und Komfort. Dasselbe gilt für die zahlreichen Webseiten-Baukasten-Systeme, mit denen Designer*innen Webseiten erschaffen, ohne dafür Code zu schreiben. Die Inhalte des Webs werden in eine einheitliche Struktur gepresst, damit Zeit gespart und Informationen effizient erfasst, verglichen und bewertet werden können.
Webseiten-„Schmuck“ und unnötige Elemente wie animierte Intros oder Hintergrundmusik haben sich daher, nachdem sie in der Anfangszeit des Webs exzessiv verwendet wurden, weitestgehend abgeschafft und wurden von einem schlanken, minimalistischen Design abgelöst – eine Entwicklung, die wir z.B. auch aus der Architektur kennen.
Das Web hat sich professionalisiert, kommerzialisiert, und vor allem: kapitalisiert: Es ist strukturierter und funktionaler geworden, einheitlich genormt und daher effizienter in der Benutzung.
Es ist keine Spielwiese mehr, auf der sich Individuen nach ihren eigenen Vorstellungen und Mitteln austoben, sondern erinnert eher eine westliche Großstadt: Auf den ersten Blick chaotisch und undurchdringbar, lässt sie sich mithilfe von Navigationshilfen einfach und auf sicheren Wegen erschließen. Wer der Navigation vertraut, wird schnell und sicher zum Ziel gelenkt (und dabei von Überwachungskameras mit Gesichtserkennung aufgezeichnet und analysiert). Im Gegensatz zur Spielwiese, auf der sich jede Person ihr eigenes Zuhause selbst zusammenzimmert, erfolgt die Besiedlung der Stadt im einheitlichen Stil durch große, effizient agierende Unternehmen entlang der großen Straßen. Der Einzug von Individuen in die bereits möblierten Häuser ist einfach und komfortabel.
Wer sich aber auf einen Streifzug durch dunkle Gassen einlässt und sich ein bisschen Wissen aneignet, kann in den versteckten Seitenstraßen quasi alles finden – auch einen Platz, um sich die ganz eigene Web-Utopie zu verwirklichen. Vielleicht ist es aber auch ratsamer weiterzuziehen – das World Wide Web ist schließlich nur eine von vielen Internet-Galaxien.